»Als ich im Verlagswesen anfing«, erzählte ich in lockerer Runde im kleinen Kollegenkreis, »hatte ich eine klare Vorstellung davon, wie ein Chefredakteur auszusehen hatte. Wer Chefredakteur war, trug immer Krawatte, idealerweise hatte er zudem immer einen Anzug an und lief nur selten locker durch den Flur. Und er hatte eine Assistentin, die ihm den Kaffee brachte.«
»Davon träumst du doch noch heute.« Die Kollegin lachte.
»Ich bewunderte wirklich einen der Chefredakteure«, behauptete ich. »Der hat sich nicht seinen Kaffee selbst geholt, der hatte alles klar geregelt: Punkt zehn Uhr stand auf seinem Schreibtisch eine Tasse Kaffee – natürlich an einer exakt definierten Stelle rechts von seinem Ellbogen –, die auch das für ihn ideale Maß an Zucker und Milch enthielt. Daran wurde nicht gezweifelt, und das behielt er bis zur Rente bei.«
Als mich alle ansahen, als erzählte ich eine Schauergeschichte, grinste ich. »Echt jetzt!«, fügte ich hinzu. »So war das früher, und zwar in unterschiedlichen Abstufungen.«
»Ich hab auch eine Geschichte, die sich genau so ereignet hat«, sagte auf einmal eine Kollegin, die sonst eher schweigsam war. »Es war Mitte der 90er-Jahre, als gewisse Chefredakteure von heute noch mit zerrissenen Hosen und bunten Haaren ins Büro gekommen sind.«
Nachdem alle gelacht hatten, erzählte sie weiter. »Ich arbeitete damals für den Buchvertrieb, und die einzelnen Vertriebsleute hatten einen gewissen Standesdünkel. Eines Tages rief mich eine Vertriebsdame an, die für einen Außendienstbezirk zuständig war und nur einen Tag in der Woche im Verlag arbeitete. Sie brauche mich dringend. Ich eilte zu ihr ins Büro, wo sie hinter ihrem Schreibtisch saß. Sie sagte mir, ich solle zu dem Schrank gehen, der rechts von ihr stand. Dort liege eine Mappe im mittleren Fach auf der rechten Seite. Ich fand diese Mappe gleich, hatte sie dann in der Hand und wartete ab, was ich damit tun sollte. Üblicherweise musste man irgendwelche Unterlagen kopieren, die dann an andere Leute verteilt werden sollten.«
Es fiel mir nicht zum ersten Mal auf: Die Kollegin verstand etwas davon, die Spannung zu schüren. Sie lehnte sich zurück, nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse und schloss für einen Moment die Augen, als müsste sie sich erinnern. Wir anderen am Tisch hielten den Atem an.
»So stand ich neben der Vertriebsdame, die Mappe in der Hand«, erzählte sie weiter und setzte ihre Tasse ab. »Ich wartete auf weitere Anweisungen. Doch die Vertriebsdame klopfte mit der flachen Hand auf ihren Tisch, links von sich selbst und sagte, ›legen Sie es einfach da hin‹, und das tat ich und war danach wieder auf dem Flur.«
»Das heißt«, fragte ich gedehnt, »die hat dich also durch den halben Verlag laufen lassen, um etwas aus einem Schrank zu holen, der zwei Meter von ihrem Stuhl entfernt war?«
»Ja. Mehr war’s nicht.«
»Hammer.« Ich guckte ins Leere. »Das werde ich nie schaffen.« Mir wurde klar: Bei den Führungskräfte-Seminaren in den Nuller-Jahren hatte ich offenbar versagt. »Bis zur Rente schaffe ich das nicht mehr.«
Meiner ließ mich immer antanzen, wenn das Papier im Drucker aus war oder die Papierrolle im Plotter gewechselt werden musste. Von meiner Kollegin verlangte er, dass sie ihm jeden Tag das Frühstück (Kaffee, Orangensaft, Müsli, Obst und Jogurt) herrichtete. Dem habe ich mich zum Glück von Anfang an verweigert.
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