Der Briefträger kannte mich schon lange. Er wohnte keine 300 Meter von unserem Haus entfernt, auf unserer Seite des Dorfes, also da, wo die »Alteingesessenen« wohnten, und nicht da, wo sich die »Reing’schmeckten« ansiedelten. Er hatte mich als Kleinkind im Kinderwagen gesehen, als Kindergartenkind und als Grundschüler; unzählige Male war ich an seinem Haus vorbeigezogen, um in die Schule oder den Kindergarten zu gehen.
Seit einiger Zeit aber bekam ich mehr Post als jeder andere Mensch in unserem Weg. Das schien ihn zu verwirren. Es konnte also durchaus geschehen, dass er mir – wenn ich gerade im Hof stand – die Briefe in die Hand drückte und mir sagte, »der Bully hat wieder geschrieben«. Dann wusste ich, dass ich eine neue Postsendung von »Bullys Schreibtisch« bekommen hatte, einem der Science-Fiction-Clubs, in denen ich neuerdings Mitglied war.
An jenem Tag vor Weihnachten war allerdings einiges anders. Oder aber: Es war wie immer, nur mit Abweichungen. Die Nachbarn mochten den Postboten, und so bekam er überall im Dorf an diesem Tag seine Geschenke. An einem Haus gab’s eine Schokolade, ein Bauer überreichte ihm ein Stück Speck, eine Frau überraschte ihn mit selbstgestrickten Handschuhen.
Und immer wieder bekam er einen Schnaps ausgegeben, »oin uff da Weg«, wie man so schön sagte. Da wir am Ortsrand wohnten, waren unser Weg immer der letzte, durch den er kam, und nach unserem Haus ging er heim. Normalerweise war seine Route gegen ein Uhr beendet, an diesem Tag vor Weihnachten kam er gegen fünf Uhr mittags an.
Es war schon dunkel, und als sich ein schwankender Mann unserem Haus näherte, rief meine Mutter erschrocken. »Der Postler kommt.« Sie hatte recht. Es schneite leicht, die Flocken wirbelten um ihm. Er näherte sich der Treppe zu unserer Haustür, und fast wäre er hingefallen.
Meine Mutter öffnete die Tür. »So kannst du nicht weitermachen«, sagte sie streng.
Der Postbote lehnte an der Wand, sein Gesicht war verzogen. »Ich hab Post für euren Jungen«, lallte er und pustete uns seinen Atem ins Gesicht, der nach Schnaps roch, »nur für den«. Er hielt ein Bündel Papier in der Hand. »Eine Postkarte aus Darmstadt, irgendwas zu Weihnachten, irgendein Heft in einem Umschlag, zwei Briefe, bei denen ich nicht wissen will, worum’s da geht.«
»Es geht dich ja auch nichts an«, sagte meine Mutter tadelnd.
»Aber interessant ist es trotzdem.«
Fast wäre der Mann an der Wand heruntergerutscht. Ich nahm ihm die Post ab, dann packten meine Mutter und ich zu und schleppten ihn in die Küche. Dort war es warm. Die Kleidung des Postboten glänzte feucht, seit Stunden stapfte er durch Schnee und Eis. Wasser tropfte von seinen Schuhen, er dampfte.
»Guck nicht so!«, fuhr sie ihn an. »Du kriegst hier keinen Schnaps mehr.«
»Ich will auch keinen mehr. Ich will nicht so viel saufen, aber sie drängen’s mir ja auf.«
»Dann sag halt nein.«
»Du weißt selbst, wie schwer das in so einem Flecken ist.« Wir sagten nicht »Dorf«, wir sagten »Flecken«, was eher wie »Flegga« ausgesproche wurde. Der Postler atmete schwer. »Hast du mir einen Tee?«
»Zufällig.« Meine Mutter stellte eine Tasse vor ihn hin, schenkte ihm den Tee ein, den sie einige Minuten zuvor gemacht hatte. »Ohne ein Schnäpsle darin«, sagte sie und schob ihm die Tasse zu.
Er trank. Nüchtern wurde er davon nicht. Er rutschte zur Seite. Ich sah ihm an, er würde bald einschlafen, inmitten unserer Küche.
»Wenn der Vater heimkommt, wird er sich wundern«, spottete meine Mutter.
Zu der Zeit arbeitete mein Vater auf einer Baustelle; es würde sicher sechs Uhr oder später werden, bis er bei uns auftauchen würde. Dann brauchte er sein warmes Bier und sein Vesper, um wieder zu Kräften zu kommen. Bei dem Wetter würde er völlig durchgefroren sein.
»Trink deinen Tee«, sagte meine Mutter, »und dann gehst du heim zu deiner Frau.«
Der Postler nickte. »Die Leute sind alle nett, aber ich will nicht so viel saufen.«
Meine Mutter gab es auf. »Dann lass es. Niemand zwingt dich.«
»Hast du eine Ahnung.«
Eine Viertelstunde später stand er wieder im Hof. Der Postbote taumelte immer noch, aber er schien zu wissen, welche Richtung er einzuschlagen hatte. Der Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel; die Straße war weiß.
»Schöne Weihnachten!«, wünschte meine Mutter.
Der Briefträger drehte sich noch einmal um. »Danke, dir auch.« Er lachte. »Auch wenn du geizig bist. Ein Schnäpsle hättest du mir ja geben können, wenn ich doch immer so viel Post für deinen Bub bringe.«
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