Eigentlich hielt ich Florian Illies immer für einen pomadig wirkenden Mann, der mit »Generation Golf« ein Buch geschrieben hatte, das ich ziemlich dämlich fand. Er kam mir immer vor wie einer dieser Jungunionisten, die mich früher so genervt hatten. Zuletzt wirkte er einige Monate lang als Verlagschef, bevor er sich wieder auf die Schriftstellerei zurückzog. Das alles machte auf mich keinen positiven Eindruck.
Doch dann las ich endlich seinen Bestseller »1913«, der bereits im Jahr 2014 erschienen war, und muss seitdem sagen: Der Kerl kann schreiben! Mit »1913« hat Illies ein Buch hingelegt, das zwar irgendwie als Geschichte-Sachbuch bezeichnet werden kann, aber von der Machart und von der Schreibe her streckenweise an einen Roman erinnert.
Das Buch teilte der Autor in Kapitel ein, die immer dem jeweiligen Monat des Jahres entsprechen, und füllte diese Kapitel mit allerlei Verbindungen. Illies erzählt von Dichtern wie Franz Kafka und seiner unerfüllten Liebe oder Gottfried Benn und Rainer Marie Rilke. Er zeigt Künstler wie Oskar Kokoschka und Musiker wie Gustav Mahler, immer wieder jedoch Autoren mit all ihren Problemen und Sehnsüchten. Die große Politik spielt stets ihre Rolle, aber sie bleibt im Hintergrund.
Den Schwerpunkt des Buches bilden das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn; Wien und Paris sind ebenfalls wichtig, gelegentlich wird nach Russland oder Amerika geblickt. Die Protagonisten in »1913« reisen viel, sie bewegen sich kreuz und quer durch Europa, sie streiten und sie lieben sich. Die Gesellschaft verändert sich langsam, aber niemand kann sich den grauenvollen Krieg vorstellen, der ein Jahr später ganz Europa in Flammen setzen wird.
Ich gestehe, dass ich dieses Buch staunend und mit wachsender Begeisterung las. Illies schreibt extrem unterhaltsam. Auch wenn man wie ich bislang wenig Ahnung von den Künstlern des Jahres 1913 hatte und vor allem nichts über ihre Beziehungen und Affären wusste, erfährt man schnell recht viel über diese Themen.
Erstaunlicherweise fand ich das alles tatsächlich interessant, keine Sekunde lang irgendwie langweilig oder unnötig. Der Autor schafft es nämlich, über all diese Personen ein Sittenbild des Jahres 1913 zu entwickeln und vor dem Leser auszubreiten.
Ich wurde während der Lektüre neugierig auf manche der Figuren, die Illies in seinem Buch auftauchen lässt, und folgte ihren Lebensgeschichten, als seien sie Romanhelden. Das ist wohl eine Stärke des Sachbuches: Es vermittelt einen Abriss der Zeit, die es darstellt, so unterhaltsam, dass man sich auch auf Themen einlässt, die einen sonst nicht interessieren.
Legt man das Buch zur Seite, kann man sich allerdings selbst dabei zusehen, wie man Stück für Stück alles vergisst, was man zuvor gelesen hat. Diese Vielzahl an Details kann sich einfach kein Mensch merken. Aber auch darin unterscheidet sich »1913« nicht von einem dickleibigen Unterhaltungsroman.
Trotzdem: »1913« war hierzulande ein Bestseller, nicht zu Unrecht. Viele hunderttausend Menschen kauften das Buch; ob sie es alle lasen, weiß natürlich niemand. Ich tat es und empfehle es gern weiter: als ein Sachbuch mit großen Unterhaltungsqualitäten.
Es passiert einiges um mich herum, und nicht alles gefällt mir. Vieles fasziniert mich, vieles interessiert mich – und das soll Thema dieses Blogs sein.
14 Juli 2021
Ein spannendes und unterhaltsames Geschichts-Sachbuch
1 Kommentar:
Leider ist es auch in diesem Blog nötig geworden, Kommentare vorher zu »filtern« und sie erst danach freizuschalten. Ich bedauere das sehr, möchte diese »Sicherungsfunktion« aber beibehalten. Dieser Blog soll keinen Menschen für Beleidigungen und anderes zur Verfügung stehen, die im Zweifelsfall tagelang online sein könnten.
Bitte habt dafür Verständnis - und nötigenfalls auch mal 24 Stunden oder länger Geduld.
Einige weitere Informationen zu dem Sachbuch »1913« gibt es auf der Internet-Seite des Fischer-Verlages. Hier:
AntwortenLöschenhttps://www.fischerverlage.de/buch/florian-illies-1913-9783100368010