Ohne jegliche Ankündigung flogen die Steine. Sie prasselten von der Seite in die Demonstration herein. Ich bekam es erst mit, als Leute in meiner Nähe in Panik gerieten und auf einmal viele Menschen zu rennen begannen.
»Was ist los, verdammt?«, schrie ich.
»Die Scheiß-Nazitürken!«, brüllte ein Vermummter in meiner Nähe. »Da – aus der Seitenstraße.«
Es war der Samstag, 5. Juni 1993. Ich stand in einem Demonstrationszug, der vor allem aus Autonomen, Punks und linken Türken bestand. Insgesamt fünf Demonstrationszüge bewegten sich durch Solingen auf einen zentralen Kundgebungsort zu. Eine Woche zuvor waren bei einem Brandanschlag auf ein Haus fünf türkischstämmige Menschen ums Leben gekommen. Und nun waren wir in der Stadt, um auf einer Kundgebung zu zeigen, was wir davon hielten.
Ich lief los, wie viele andere um mich herum, ohne ein klares Ziel zu haben. Dann erkannte ich es: Aus der genannten Seitenstraße rannten Leute auf uns zu. Es waren mehrere Dutzend, vielleicht sogar einige hundert. Die Straße war voller Menschen, sie trugen Knüppel und Dachlatten in der Hand und brüllten in türkischer Sprache irgendwelche Parolen, die ich nicht verstand.
Vereinzelt flogen Flaschen und Steine, auch von unserer Seite. Doch mit mir stürmten auf einmal einige hundert Leute den Angreifern entgegen. Ich war nicht an der Spitze des Sturms, sondern eher im hinteren Mittelfeld. So bekam ich gar nicht direkt mit, wie vor mir die Gruppen zusammenstießen.
Ich sah das Handgemenge. Dachlatten wurden geschwungen, Leute gingen zu Boden, irgendwo prasselten Steine zwischen die Menschen. »Die Bullen!«, schrie jemand.
Der Kampf vor uns war vorüber, bevor ich nahe genug gekommen war. Die Angreifer wandten sich zur Flucht, die Polizei stürmte mit Wucht in die Seitenstraße. Hubschraubern dröhnten über den Straßen von Solingen. Wir zogen uns zu unserer Demonstration zurück, während die Polizei die Seitenstraße absperrte. Einige letzte Steine wurden geschleudert, dann waren wir wieder bei den anderen.
Ich kochte vor Wut und reihte mich wieder in die Demonstration ein. Die Slogans, die durch die Straßen hallten, wurden aggressiver. »Aufruhr Widerstand – es gibt kein ruhiges Hinterland!« ertönte. Dann wieder »Wir haben euch etwas mitgebracht – Hass Hass Hass!« Die meisten um mich waren vermummt.
Wir kamen nicht weit. Die Demonstration hielt vor der Glasfront einer »McDonald’s«-Filiale. Schätzungsweise eine Hundertschaft Polizisten stand davor, komplett in Straßenkampf-Montur, Schilder und Knüppel in der Hand, von hinten kamen weitere Polizisten. Wir drängten mit Tausenden von Leuten auf sie zu.
Die Stimmung war aufgeheizt, ein Geruch nach Bürgerkrieg hing in der Luft. Steine flogen auf die Polizisten und auf die Glasfront des Restaurants. Was sich als Wurfgeschoss benutzen ließ, wurde nach vorne geschleppt und auf die Beamten geworfen.
Und dann kamen der Slogan, der in diesen Tagen oft benutzt wurde und an diesem Tag zum ersten Mal zu einer direkten Wirkung führte: »Wo – wo – wo – wo wart ihr in Rostock?«, brüllten wir. Es war eine Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen, wo die Polizei tagelang einen rechtsradikalen Mob hatte gewähren lassen, auch dann, als dieser ein Haus anzündete, in dem sich Menschen aufhielten, und wo die Polizei erst aktiv wurde und prügelte, als sich Antifaschisten aus Hamburg und Berlin den Nazis in den Weg stellten.
»Wo – wo – wo – wo wart ihr in Rostock?«, hörte ich nicht zum ersten Mal. Aber es wurde an diesem Tag wütend und entschlossen gebrüllt, von Tausenden von Leuten, die sich zu einem größten Teil in Ketten formierten, die vermummt und entschlossen waren.
Und es geschah, was ich nicht erwartet hatte: Die Polizisten zogen sich zurück, in genau dem Rhythmus, mit dem der Slogan gebrüllt wurde. »Wo – wo – wo – wo wart ihr in Rostock?«, gellte es durch die Straßen, und Schritt um Schritt um Schritt wichen die Polizisten nach hinten.
Dann zerprasselte die Glasfront des »McDonald’s« in einem Hagel aus Steinen. Die Filiale wurde auch noch gestürmt und verwüstet, das war mir aber egal. Die Demo lief mittlerweile schneller, kämpferisch und zornig. Die Polizisten flüchteten geradezu, und wir eilten durch die Straßen von Solingen auf den zentralen Kundgebungsplatz zu.
Ich zog mein Halstuch weiter hoch und klopfte die schmutzigen Hände an der Hose ab. Ich war verschwitzt und angespannt, die Sonne knallte auf uns herunter. Es war noch früh am Tag, und mir war bewusst, dass das noch nicht die letzte Auseinandersetzung gewesen sein konnte …
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