Die Stapel mit meinen alten Kinderbüchern, die ich vor über zwanzig Jahren bei meinem Auszug zurückgelassen hatte, schienen mich immer auffordernd anzublicken, wenn ich meine Eltern besuchte und mein Kinderzimmer unter dem Dach betrat. Doch es dauerte Jahre, bis ich endlich zugriff und einige der Bücher nach Hause mitnahm. Dort lagen sie wiederum einige Zeit, aber ich nahm mir sie nacheinander vor.
Viele erwiesen sich als seltsam, als verstaubt und antiquiert, mit einem altmodischen Menschenbild und mit einer Handlungsführung, bei der ich mich fragte, wie ich denn als Kind ein solches Buch hatte lesen können. Doch dann fiel mir »Geschenk mit Hindernissen« in die Hände, ein Roman der Schriftstellerin Editha Maria Baum, über die ich nichts weiß und über die es anscheinend auch im Internet so gut wie keine Informationen gibt: ein echter Jugendroman, auf dem ein Junge mit blauen Augen, blauem Pullover und blauer Pudelmütze zu sehen ist, im Hintergrund ein Einfamilienhaus im Garten.
Mit wachsendem Staunen las ich das Buch, das schon ziemlich zerfleddert war; es sah aus, als hätte ich es Kind gut ein Dutzend Mal durchgeackert. Die Handlung ist schnell erzählt: Der elf Jahre alte Peter, der von seiner Mutter nicht mehr »Pitti« genannt werden will, will der guten Frau unbedingt ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Und weil er kein Geld hat, muss er sich die Kohle verdienen. Ihm fällt ein, dass er sich das Geld gewissermaßen erspielen könnte, und so zieht er mit seinem Freund Mücke los, um bei den Leuten an der Haustür zu klingeln und ihnen für zwanzig Pfennig ein Klavierstück vorzutragen.
Das Buch erschien im Engelbert-Verlag, von dem mir meine Eltern damals viele Bücher schenkten; es sieht preiswert aus, mit billigem Papier und mit einem schlichten Umschlag, zwar als Hardcover gebunden, aber auch das ohne irgendwelche Extras. Vom selben Verlag bekam ich auch »Tarzan«-Bücher und anderes. Laut Impressum wurde das Buch im Jahr 1968 gedruckt.
Es ist kaum anzunehmen, daß ich es in diesem Jahr bereits geschenkt bekam, weil ich zu jener Zeit gerade damit begann, mir mühsam das Lesen selbst beizubringen. Vermutlich schenkte es mir meine Mutter irgendwann 1969 oder 1970. In fürchterlicher Erst- oder Zweitklässler-Handschrift steht auf dem sogenannten Schmutztitel: »Eigentum Klaus Frick geb. 9.12.93«; ich schließe daraus, daß ich diese Notiz erst 1972 oder so angebracht habe. Warum ausgerechnet die Jahreszahl falsch geschrieben worden ist, erschließt sich mir über 35 Jahre danach nicht mehr.
Die bürgerliche Welt, die in diesem Roman beschworen wird, existiert heute wohl kaum noch. Man lebte in Einfamilienhäusern oder strebte zumindest an, irgendwann in solchen leben zu können; der Vater ernährte die Familie, während die Mutter für das Essen und die Gemütlichkeit sorgte. Jungs wurden als »Buben« bezeichnet, lernten in der Schule brav das Klavierspielen und ärgerten ein wenig die Lehrerin; wenn sie »wild« genug waren, drängelten sie am Eingang des Busses oder spielten auf der Straße wie die Blöden Fußball.
Schaue ich mir das Buch heute an, erkenne ich viel aus meiner eigenen Kindheit wieder: Man war brav oder gab sich Mühe, brav zu wirken, ging in die Kirche und in die Schule, und das Fußballspielen war eine der wichtigsten Freizeitbeschäftigungen. Und so eine Bommelmütze, wie sie »Pitti« auf dem Cover des Buches trägt, führte ich selbst sehr gern spazieren.
Mir wurde komplett klar, warum ich das Buch so gern und so oft gelesen hatte: Das war ein Junge, wie ich damals auch gern einer gewesen wäre, einer, der durchaus seine Streiche spielte, ansonsten aber brav mitmachte in allen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Klavierspielen fand ich zudem selbst toll, ich war begeistert von Menschen, die Musik machen konnten – damals ahnte ich noch nicht, wie unmusikalisch ich in Wirklichkeit war.
Das Buch ist mit 153 Seiten sehr dünn, eine übersichtliche Geschichte, die in einem flotten Tempo erzählt wird, die mich damals nicht langweilte und die ich 2008 noch mal mit großem Interesse lesen konnte. Vor allem auch deshalb, weil ich so viel über meine eigene Jugend erfuhr, über das Menschenbild, das unsereins damals auf dem Dorf hatte.
Nach beendigter Lektüre hielt ich das Buch eine Weile in den Händen. Ich blätterte es noch einmal durch, betrachtete die Innenillustrationen und amüsierte mich über die kleinbürgerliche Welt, die auf diesen Seiten so schön dargestellt wird. Dann stellte ich es ins Bücherregal, ganz in die Nähe von heutigen Favoriten wie James Graham Ballard; ich bin gespannt, ob und wann ich es wieder aus dem Regal ziehe, um in »Geschenk mit Hindernissen« zu blättern.
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