18 Juli 2025

Auf der Zitadelle

Der Mann war untersetzt und schwitzte. Sein T-Shirt spannte sich um den Oberkörper und zeigte an mehreren Stellen ausgedehnte Schweißflecken. Ich vermutete, dass ich ebenso aussah – aber ich hatte mich am Morgen für ein weißes T-Shirt entschieden, bei dem man die Flecken nicht so gut wahrnahm, während er ein hellbraunes Oberteil trug.

Ich saß im Schatten eines Baumes und ruhte mich ein wenig aus. Die Zitadelle von Rethymno, einer Stadt auf Kreta, war durchaus interessant, und ich hatte mir das Bauwerk bereits zum größten Teil angesehen. Aber es war vielleicht keine gute Idee gewesen, die Besichtigung am frühen Nachmittag zu unternehmen, wenn die Sonne am höchsten stand. Also saß ich da, trank Wasser und genoss den frischen Luftzug im Schatten.

Auf einmal trat eine Frau auf den Mann zu; sie kam aus dem Häuschen, das in wenigen Metern Entfernung die Toiletten enthielt. »Wie siehst denn du aus?«, fragte sie laut auf deutsch und zeigte auf die Vorderseite seines T-Shirts.

Er sah an sich hinunter. In der Tat wirkte sein Hemd von vorne, als hätte er sich großmaßstäblich eingekleckert. »Ich habe die Wasserflasche nicht richtig aufgemacht und mir einen halben Liter neben das Gesicht geschüttet.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie blöd kann man denn sein? Hast du verlernt, richtig zu trinken?«

Die beiden redeten laut und ungeniert miteinander. Vielleicht kamen sie nicht einmal auf die Idee, jemand könnte sie auf Kreta verstehen, oder es war ihnen schlicht egal, dass ich zuhörte.

»Komm jetzt!«, sagte sie barsch. »Wir schauen uns die Anlage an. Da stört sich niemand an deinem Aussehen, sind ja nur alte Steine hier.«

Er erhob sich. »Ist doch nur Wasser«, sagte er lahm.

»Zu blöde zum Trinken und dann auch noch Ausreden finden!« Theatralisch warf sie die Arme in die Luft. »Warum habe ich so einen dummen Mann geheiratet? Das gibt es doch nicht.« Sie ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten, und schlug den Weg zum Zentrum der Zitadelle ein.

»Das liegt an meinem guten Aussehen«, behauptete der Mann. Schwerfällig erhob er sich, nahm einen Rucksack auf, der neben ihm gelegen hatte, und folgte ihr.

Ich sah den beiden fasziniert nach. Sie schimpfte ununterbrochen über ihn, er gab maulige Antworten. Irgendwie schienen sie sich gut zu verstehen. Während ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche nahm, wünsche ich ihnen in Gedanken einen schönen Aufenthalt in der Zitadelle.

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